Wohin mit der sexuellen Kultur?


+Der folgende Text ist in etwas anderer Form in der calvinistischen, zeitweilig progressiven Zeitung De Trouw vom 28. September 1996 erschienen und ist vier Tage vorher als Lesung auf einem Kongress in Ede anlässlich der Vorstellung von Frits Bruinsmas Buch „De jeugdige zedendelinquent“ (Utrecht: SWP, 1996) vorgetragen worden. Der Autor, Gert Hekma, arbeitet als Dozent für Homostudien am Soziologischen Institut der Universität von Amsterdam.


Hier und da erklingt heutzutage anlässlich der belgischen Affaire Dutroux und des schwedischen Kongresses über Sextourismus und Kinderprostitution der Ruf, allerlei Formen sexueller Äußerung zurückzudrängen: keine Pornos mehr in der Glotze, keine erotische Werbung mehr auf Plakatwänden, keine verruchten Ansichtskarten mehr auf der Straße, höhere Altersgrenzen im Strafgesetz. Einigen Leuten zufolge sind wir seit der sexuellen Revolution übermäßig weit vorangeprescht und müssen die Moral von ehedem wieder herstellen.


Eine Rückkehr zu den altmodischen sexuellen Beziehungsformen scheint mir nicht möglich und nicht wünschenswert. Nicht möglich, weil die fortschreitende Sexualisierung der Gesellschaft unumkehrbar ist. Nicht wünschenswert, weil gerade in den alten Beziehungsformen allerlei Formen von Kindesmisshandlungen innerhalb wie auch außerhalb der Familie Gang und Gäbe waren. Als ein junger Polizeibeamter Ende der sechziger Jahre in Betuwe gegen alle Formen von Inzest durchgreifen wollte, riet ihm ein älterer Kollege davon ab, weil solche Dinge zur lokalen Kultur gehörten. Glücklicherweise kommen derartige Missstände momentan durchaus vor Gericht. Frits Bruinsma weist in seinem neuen Buch dadrauf hin, dass die Erklärung für sexuelle Kriminalität durch junge Leute nicht sosehr in sexueller Aufgeschlossenheit zu suchen ist, sondern eher in Scheinheiligkeit und Schweigen über sexuelle Beziehungen.


Als Soziologe will ich mich hier auf das Thema der sexuellen Aufgeschlossenheit konzentrieren und auf das Gefühl eingehen, dass nach der sexuellen Revolution etwas schief gelaufen ist. Mein Blick auf die Probleme, die seitdem aufgekommen sind, geht in eine andere Richtung als der der meisten momentanen Kritiker der Liberalisierung.


Soziologen betrachten die sexuelle Revolution heutzutage als ein Aufholmanöver. Es gab seit dem Beginn dieses Jahrhunderts eine stets breitere Kluft zwischen Geschlechtsleben und Sexualmoral. Menschen taten vor den 60er Jahren im Bett Dinge, die sie als schlecht empfinden mussten. Sie hatten Sex vor der Ehe, benutzten Verhütungsmittel, masturbierten, gingen homosexuelle Beziehungen ein und schauten sich Pornobildchen an. Sie kniffen die Katze im Dunkeln. Nicht ihre sexuellen Praktiken veränderten sich in den Sechzigern, sondern ihre Auffassungen über sie. Sie begannen liberaler über das zu denken, was sie vorher schon heimlich gemacht hatten. Die sexuelle Revolution hat die Kluft zwischen Sexualmoral und -leben ein gutes Stück überbrückt. Das ist ein wesentliches Verdienst dieses Umschwungs gewesen. Gleichzeitig ist all das sexuelle Elend aus Missbrauch und Inzest, das unter einer Decke aus Schweigen und Verlogenheit in Familien verborgen geblieben war, bloßgelegt worden. Die Frauenbewegung nahm der ganzen Sache die Spitze und bestimmte eine Zeitlang die Richtung der Diskussion.


Die sexuelle Revolution bedeutete einen moralischen und praktischen Durchbruch auf den Gebieten von Empfängnisverhütung, Homosexualität, Prostitution, Ehe, Pornographie. Es ging endlich mehr. Sie hat viele Segenungen gebracht, die unveräußerlich und wahrscheinlich auch unumkehrbar sind. Aber an einem Punkt hapert es seit der Entwicklung des sexuellen Lebens seitdem. Denn bestand vor 1970 eine Kluft zwischen einer strikten Moral und einer freieren Handhabung, so ist nach 1970 eine Kluft in der umgekehrten Richtung entstanden. Momemtan geht viel, aber passiert wenig. Inmitten der heutigen Pornopanik ist das wichtig festzustellen. Die Niederländer mögen von sich glauben, dass sie sich von einer repressiven Moral befreit haben – sie verhalten sich in ihrem Sexleben nicht entsprechend. Alle Worte und Bilder, die auf die Erotik in all ihren Formen verwendet werden, scheinen vor allem zu verhüllen, dass wenig oder keine Abwechslung in das Sexualleben gekommen ist. Sex ist zu sehr eine Sünde geblieben für die Niederländer.


Im Sexleben des durchschnittlichen Westlers sind nämlich den Sexualstatistiken [1] seit 1970 zufolge keine großen Veränderungen aufgetreten. Das Sexualleben der meisten Menschen ist noch stets an einen festen Partner gebunden, der vielleicht etwas schneller ausgewechselt wird, aber der sexuelle Dreh- und Angelpunkt bleibt. Liebe und Sex kleben noch stets aneinander: Die meisten Menschen sind einander treu. Das heutige Modell des Sexuallebens ist Serienmonogamie: ein Partner zugleich. In seiner Jugend experimentiert der Westler ein bisschen, bis er seine erste feste Beziehung eingeht. Eine Beziehung, die immer mehr Menschen nach einiger Zeit zugunsten einer anderen abbrechen. Männer beginnen in der Regel eine weitere Beziehung mit einer jüngeren Frau, während geschiedene Frauen nicht selten allein sitzen bleiben.


In den fünfziger Jahren lag die Kluft zwischen einer restriktiven Moral und einer freieren Praxis, jetzt liegt die Kluft zwischen einer freien Moral und einer eingeschränkten Praxis. Alle Worte und Bilder führen nicht zu einem geschmeidigeren Sexleben. Mit meiner Kenntnis über die Homowelt würde ich es so formulieren: Warum haben es die Heten nicht geschafft, auch eine so lebendige Sexwelt zu schaffen wie die Schwulen? Warum haben es die Schwulen durchaus geschafft, eine sexuelle Kultur zu entwickeln mit Saunas, Parks, Dunkelkammern und wilden Festen, wo sie sexuelles Vergnügen erleben? Das ist eine Kultur, die ungeachtet aller Risiken sicher ist, eine Welt ohne ernstzunehmende Störungen – außer der Bedrohung durch Gay bashing von außen. In der Homowelt hält sich die interne Gewalt in Grenzen und außerdem ist es den Schwulen gelungen, mit ausgeklügelten Verhaltensmustern zu sicherem Sex recht effektiv auf die lebensgefährliche Krankheit Aids zu reagieren.


Das Problem der heutigen sexuellen Kultur scheint mir nicht, dass ein Zuviel an sexuellen Bildern im Umlauf ist. Im Gegenteil. Selbst wenn wir solche Abbildungen aus der Öffentlichkeit entfernen würden, gäbe es noch genug nichtsexuelle Darstellungen, die erotische Stimuli liefern könnten. Auch ohne Kinderpornos werden Pädophile Bildmaterial von Kindern, das sie erregt, aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen aufpicken. Mir scheint das Problem der heutigen Gesellschaft eher, dass die Sinne ununterbrochen stimuliert werden, während es abgesehen von festen Beziehungen und Prostitution wenig anerkannte Wege gibt, um sexuelles Vergnügen zu erleben. Leute kucken sich mit roten Wangen Sexprogramme in der Glotze an, aber bleiben am Ende verlegen zurück. Die bestehende Überflutung mit Bildern schafft Verlangen, das praktisch niemand verwirklichen kann. Bei Sport und Kunst wird Buchweisheit in die Praxis umgesetzt, auf Sportplätzen, in Zeichen- und Musikklassen. Die Obrigkeit ermutigt uns dazu, dazu ja zu sagen und unsere Grenzen zu verlegen. Beim Sex bleibt es dagegen bei unrealisierter Geilheit. Das führt letztendlich zu psychischen und kriminellen Konflikten.


Ich möchte auf vier Problempunkte in den heutigen Auffassungen über Sexualität hinweisen, die einer geschmeidigen Belebung sexuellen Vergnügens im Weg stehen. Wir denken noch stets zu sehr, dass Sexualität eine Sache ist erstens von Männern und zweitens von der Natur, drittens, dass Sex eng verbunden ist mit Liebe, und viertens, dass es sich bei Sexualität um eine Privatsache handelt.


Das erste Problem ist der Unterschied, der zwischen männlicher und weiblicher Sexualität gemacht wird. Wir denken noch stets in Dimensionen von aktiven Männern und passiven Frauen, von Männern, die immer wollen und Frauen, die sich abwartend verhalten. Jungen lernen in der Regel ja zum Sex zu sagen, Mädchen das gegenteilige. Solange wir weiterhin einen unangemessenen Unterschied zwischen der Sexualität von Mann und Frau machen, wird heterosexueller Verkehr mühsam bleiben. Der Feminismus mag große Erfolge errungen haben bei der Überwindung des Geschlechtsunterschiedes, bei der Sexualität ist der Geschlechtsunterschied noch quicklebendig. So arbeiten in der Prostitution bis heute praktisch ausschließlich Frauen für eine männliche Klientel, und die männlichen Prostituierten, die es gibt, bedienen ebenfalls Männer. Mann und Frau passen körperlich gesehen vielleicht ganz gut zueinander – emotional und sexuell ist das noch lange nicht der Fall.


Die sogenannte Natürlichkeit von Sexualität ist das zweite Hindernis. Wir sprechen über Sexualität in Begriffen wie Triebe, Instinkte, Neigungen, Gene, Hormone, Drüsen. Der Glaube an eine sexuelle Natur formt die Sexualaufklärung, die schon immer stark konzentriert war auf die Beschaffenheit der Geschlechtsorgane. Vor nicht langer Zeit gab es eine Kampagne gegen sexuelle Einschüchterung mit dem kontraproduktiven Slogan „Sex ist natürlich, nicht selbstverständlich“. Dieser Tunnelblick gibt Männern eine Ausrede für ungewünschtes Betragen, denn, wie sie sagen, „Meine Hormone haben mich dazu gezwungen“. Die Natur zwingt keinen einzigen Mann dazu zu vergewaltigen, es ist sein Mangel an Respekt für den Partner, der ihn dazu bringt. Der Vorschlag, Sittenverbrecher chemisch zu kastrieren, basiert auf derselben Idee, dass Sex vor allem eine Sache der Hormone ist. Es liegt nun dreißig Jahre zurück, dass wir mit physischen Kastrationen aufgehört haben, weil sie nicht bewerkstelligt haben, was Ärzte von ihnen geglaubt und Juristen von ihnen erwartet hatten [2]. Weil sexuelle Ambitionen keine physiologischen Prozesse sind, ist die Medizin ein äußerst unbeholfenes Mittel gegen unerwünschtes sexuelles Betragen. In der Homowelt wird durchaus gesagt: Sex ist selbstverständlich, aber nicht natürlich. Das scheint mir ein guter Ausgangspunkt für sexuelle Kultur.


Durch unseren Glauben an eine sexuelle Natur verwenden wir wenig Andacht auf Sexualerziehung oder die Kunst des Flirtens, die geschmeidige Kommunikation zwischen den Geschlechtern, die Geschichte sexueller Formen und Variationen, Selbstbefriedigung, Emanzipation. Wir nehmen an, dass Kinder von Natur aus lernen, wie Sexualleben aufgebaut ist. Das ist in der Tat genauso wenig der Fall wie bei anderen körperlichen Funktionen, die Kinder grade einmal mit größter Mühe unter Kontrolle kriegen. Eine mehr kulturelle Herangehensweise an Sexualität ist sicher angebracht in der modernen Gesellschaft, insofern es um die sexuellen Umgangsformen so traurig bestellt ist. Darin sollte mehr investiert werden.


Der dritte Punkt betrifft das unzerbrechliche Band zwischen Liebe und Sex. Es ist eine moderne Idee, dass allein der Liebespartner Sex verdient. Frühere Liebestraditionen schlossen den Sex gerade aus, so wie die höfische und die geistige im Mittelalter und die romantische im 19. Jahrhundert. Aber heutzutage sind Liebe und Sex zwingend miteinander verbunden. Die Verkoppelung von Liebe und Sex ist schlecht für die Liebe, denn sexuelle Ambitionen legen oft eine Zeitbombe unter die Liebe. Sie ist schlecht für den Sex, denn die geliebte Person ist häufig nicht diejenige Person, mit der Sex am schönsten ist. Ich habe den Eindruck, dass sich viele Menschen in feste Beziehungen flüchten, weil sie sich keinen Rat wissen mit ihren sexuellen Ambitionen. So entschieden sich Homophile früher für die Heirat, aber sie sind nur vom Regen in die Traufe gekommen. Unser in der Weltgeschichte ziemlich einzigartiger Glaube an die Koppelung von Sex und Liebe begrenzt den sexuellen Spielraum und belastet die Liebe unnötig.


Die Vorstellung von Sexualität als eine Privatsache ist eine genauso moderne Idee. Bis ins achtzehnte Jahrhundert war Sexualität eine öffentliche Angelegenheit von Familie, Kirche und Obrigkeit. Erst nach der französischen Revolution ist Sexualität zu einer Privatsache von heterosexuellen Familienoberhäuptern gemacht worden, die innerhalb ihrer Familie über ihre Frau und Kinder das Sagen hatten. Es hat unbestritten auch einige intime und glückliche Heterobeziehungen ergeben, aber bei dieser Konstellation konnten auch Missbrauch und Misshandlung gut gedeihen. Das Konzept, dass Sexualität nur eine Privatsache sei, ergab nur die halbe Wahrheit, weil gleichzeitig bestimmte Aspekte von Sexualität eine öffentliche Angelegenheit blieben, so z.B. Werbeverhalten, Hochzeit, Prostitution und sexuelle Aufklärung. Nach der französischen Revolution ist eine heterosexuelle Öffentlichkeit geschaffen worden auf Kosten von anderen sexuellen Äußerungsformen, für die es nun weder in der Öffentlichkeit noch in der Privatsphäre Raum gab und die mit Strafrechtsartikeln wie etwa gegen öffentlicher Verletzung der Ehrbarkeit [das niederländische Äquivalent von „Erregung öffentlichen Ärgernisses“] oder gegen die öffentliche Zurschaustellung von aufreizendem Material bekämpft wurden.


Die Vorstellung, dass Sexualität eine Privatsache ist, hat die Entwicklung einer variationsreichen sexuellen Kultur behindert. Dardurch werden Menschen mit sexuellen Ambitionen, die in der häuslichen Umgebung nicht zu befriedigen sind, frustriert. Jugendliche, die damit beschäftigt sind, ihre sexuellen Interessen auszuloten, können dadurch beinahe nirgends zurechtkommen. Die Privatisierung des Vergnügens behindert ihre sexuelle Sozialisation. Viele Menschen richten sich nach den einengenden Normen, wie sie in unserer Gesellschaft bestehen, aber das ist überhaupt kein Grund, solche Normen anderen aufzulegen, die da überhaupt nichts von halten. Die Aufhebung dieser Normen wäre für die Bevölkerungsgesundheit gut nicht nur, um die öffentliche Darstellung von Sexualität in Stand zu halten, sondern gleichzeitig auch, um mehr Raum für sexuelles Vergnügen zu schaffen. Außer Rotlichtbezirken für Prostituierte und Treffpunkte für Schwule könnten auch Gebiete und Einrichtungen für andere sexuelle Ambitionen entstehen.


Die heutige sexuelle Kultur in den Niederlanden und andernorts in der westlichen Welt ist nicht zu leger, sondern noch stets zu repressiv. Seit den sechziger Jahren ist nicht gut darüber nachgedacht worden, was nötig ist für geschmeidige sexuelle Äußerungen. Zu sehr haben wir weiter geglaubt an einen wesentlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen, an die Wichtigkeit von Biologie, an das Kombinieren von Liebe und Sex und an den Privatcharakter von intimen Beziehungen. Wenn es nach mir geht, muss nicht jeder Sexualität auf die gleiche Weise leben. Es scheint mir, dass in einer freien Gesellschaft Platz sein muss für eine Vielzahl von sexuellen Äußerungen und Möglichkeiten. Die heutige Gesellschaft ist auf dem Weg, multikulturell zu werden, aber sie ist noch weit von Multisexualität. Der ganze Raum dafür muss erst noch geschaffen werden. Sex ist primär Vergnügen, während das mit ihm verbundene Elend ein Nebeneffekt ist. Um die bestehenden sexuellen Missstände zu bekämpfen, sollten wir viel eher in die Qualität sexueller Äußerungen investieren, als sie einzuschränken. Wir verbieten den Autoverkehr doch auch nicht wegen all seiner Opfer? Genau wie für den Verkehr haben wir fürs Sexualleben Unterricht, Regeln und Räume nötig, die den Zugang dazu für jeden einfacher machen.


Das gilt insbesondere für Jugendliche. Unser Glaube an die sexuelle Unschuld von Kindern steht in eklatantem Widerspruch zu unserer Erkenntnis, dass die sexuelle Entwicklung von Kindern in der Wiege beginnt. Aber in der Regel verkennen wir sexuelle Gefühle von Kindern und schweigen über sie. Entsprechend halsen wir ihnen allerlei Unsicherheiten auf, in denen sie sich verstricken. Eine Gesellschaft, die selbst beim Sexleben auf dem Holzweg ist, kann nicht erwarten, dass ihre Kinder den Weg in es hinein schon finden werden. Sex muss man lernen. Physiologische Informationen sind dabei genauso nutzlos wie Kenntnisse über den Motor für die Führerscheinprüfung. Den Umgang mit Gefühlen zu lernen ist ein netter Ansatz für eine bessere Beziehung zu Partnern, aber er hilft wenig beim Begreifen und Ausleben der eigenen sexuellen Ambitionen.


Es besteht kein Zweifel, dass das Zurückdrehen von sexueller Offenheit und Toleranz das Problem nicht löst, sondern nur vergrößert. Eine abweisende Haltung gegenüber Sexualität ist noch zu oft die Regel. Bei den kleinsten und geringsten Problemen auf sexuellem Gebiet machen wir es uns einfach, indem wir unsere Toleranz als vielleicht doch zu groß in Zweifel ziehen und auf eine Moral aus einer Zeit zurückfallen, in der es noch kein Internet oder MTV gab. In der Thronrede von 1996 kündigte das Kabinett Pläne an, um mehr Raum für Aktivitäten im Gruppenverband wie Sport und Kunst zu schaffen. Diese Pläne zielen auf die Verstärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Regierung kann dasselbe mit Sex tun, der eine starke Ähnlichkeit mit Kunst und Sport aufweist und auch reiche Möglichkeiten zur Integration bietet. Es ist töricht, sexuelles Vergnügen zu verbannen oder wegzudrücken; es ist besser, dafür hübsche und geschmeidige Umgangsformen zu entwickeln.


Was kann die Regierung konkret tun? Sexuellen Themen im Unterricht in mehr Fächern einen Platz einräumen angefangen von Versorgung [3] und Biologie bis zu Geschichte, Literatur und körperlicher Ertüchtigung. Sachliche Kenntnis über die verschiedenen Weisen, in der die Menschen früher und anderswo ihre Sexualität organisiert haben, erweitert den sexuellen Horizont von Jugendlichen. Solche soziologischen und geschichtlichen Kenntnisse sind nicht nur für Jugendliche wichtig; auch in Einrichtungen, die sich mit Sexualität beschäftigen, müssen solche Kenntnisse vorhanden sein. Sodass die Panikmache, von der die heutige Sexualpolitik zeugt, vermieden wird.


Weiterhin kann mehr Raum für sexuelle Variation und Vereinsbildung durch Menschen mit gleichen sexuellen Interessen nichts schaden. Homosexuelle, Exhibitionisten, Sadomasochisten, Menschen mit Interesse an Partnertausch und andere Gruppen haben sich vereinigt und organisieren gesellige Abende und wilde Feste. Ihr Betragen, das manchmal auch heute noch als kriminell verstanden wird, führt dank dieser Vereine in aller Regel zu viel weniger Problemen. Kenntnis solcher Welten kann sexuellen Entgleisungen vorbeugen. Ein deutliches Beispiel bieten die Exhibitionisten, die bei der Nederlandsen Vereniging voor Seksuele Hervorming („Niederländische Gesellschaft für Sexualreform“) spezielle Abende haben. Sie beraten sich miteinander und schaffen für sich ein Milieu und eine Perspektive, wodurch sie der Gesellschaft merklich weniger zur Last fallen und doch auf ihre Kosten kommen. Sexuelle Selbstorganisation kann Belästigung und Schaden verhindern. Jugendliche und Erwachsene, die Interessen in einer bestimmten Richtung haben, können solche Vereine besuchen und sich dort unverbindlich mit allen Möglichkeiten vertraut machen. Gefahr laufen sie dabei kaum, denn mit nur zwei Menschen sind in der Regel mehr Risiken verbunden als mit vielen Menschen. Solche Vereine bieten Formen von sozialem Zusammenhalt, an die das Kabinett nun ganz und gar nicht denkt. Sexualität bietet genau wie Sport und Musik vortreffliche Integrationsformen, zumindest, wenn wir die Vorbedingungen dafür schaffen.


Die große Frage für die nächste Zeit ist nicht, wie wir sexuelle Äußerungen aus der öffentlichen Kultur verbannen können, sondern wie wir sie so integrieren können, dass das Vergnügen gut dabei wegkommt und Probleme vermindert werden.


Anmerkungen:


[1] z.B.

Laumann, Edward et al. (1994): The Social Organization of Sexuality. Sexual Practices in the United States. Chicago: University of Chicago Press.

Spira, Alfred et al. (1993): Les comportements sexuels en France. Paris: La documentation française.

Wellings, Kaye et al. (1994): Sexual Behaviour in Britain. The National Survey of Sexual Attitudes and Lifestyles. London: Penguin.


[2] Zwischen 1938 und 1968 wurden in den Niederlanden 384 Sittendelinquenten auf gerichtlichen Beschluss zwangskastriert, und eine nicht festzumachende, aber größere Personenzahl suchte unter gesellschaftlichem Druck auf diesem Wege „Heilung“, wie sie insbesondere von katholischen Ärzten propagiert wurde. Die Hohe Zeit dieser Kastrationen war im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg; Ende der fünfziger Jahre begann ein Umschwung in der Wahrnehmung von Homosexualität. (Hekma, Gert (2004): Homoseksualiteit in Nederland van 1730 tot de moderne tijd. Amsterdam: Meulenhoff: 78, 107-109)


[3] „verzorging“ ist ein Schulfach in den Niederlanden, das Gegenstände von Kochen und Hauswirtschaft über Physiologie des Menschen im Bezug auf Lebensmittel bis zu bestimmten zwischenmenschlichen Umgangsformen behandelt.


Übersetzung von Benjamin Brosig